Google ist bekannt für seine “20% Time”: MitarbeiterInnen können 20% ihrer Zeit an selbst ausgewählten Projekten arbeiten. Das kann ein Open Source Projekt sein, eine noch nicht ausgereifte Produktidee, oder etwas ausgefalleneres, wie die Frage, ob Google in Kernenergie investieren sollte. Es gibt auch profanere Beschäftigungen: etwa interne Tools verbessern, oder einem anderen Team aushelfen. Die 20%-Zeit wird längst nicht von allen genutzt, die Kosten sind also nicht so hoch, wie es scheint. In dieser Zeit außerhalb der “normalen” Arbeitsaufgaben sind etliche Google-Produkte entstanden, z.B. GMail oder Google Transit (öffentlicher Nahverkehr in Google Maps). Google ist nicht die erste Firma, die so etwas macht. Bei 3M gibt es seit Jahrzehnten die 15% time, und Post-It notes als legendäres Produkt, das im Rahmen dieser Zeit entstanden ist. In den HP Labs gibt es eine informelle Regel, den Freitag Nachmittag für eigene Projekte zu nutzen.

Wie Hackathons ist 20% Time eine Möglichkeit, den Projektfilter abzuschalten. Innovationen können also wachsen und Unterstützer gewinnen, bevor sie die Hürden des Projektfilters nehmen müssen. Außerdem wird implizit eingestanden, dass der Projektfilter nicht perfekt ist (sein kann).

Es gibt noch einige unerwartete “Nebenwirkungen” von 20% Time:

• “Kleinigkeiten”, für in der normalen Priorisierung kein Budget gefunden wird, können erledigt werden
• Die 20% wirken als Pufferkapazität, wenn im “Hauptprojekt” mal mehr Arbeit anfällt. Man kann jemanden eigentlich nur zu 80% (4 Tage die Woche) verplanen.
• Im Wettbewerb um gute Leute ist es sehr attraktiv, wenn sie etwas Eigenes machen können.
• Es wirkt als Gegenmittel zu schlechten Managern: man kann immer noch zu 20% selbst bestimmen, woran man arbeitet
• Wer in ein anderes Team wechseln will, kann dort erstmal aushilfsweise im Rahmen seiner 20%-Zeit arbeiten
• Teams haben einen Anreiz, ihre Projekte innerhalb der Firma bekannt zu machen. Wer andere im Rahmen ihrer 20%-Zeit rekrutieren will, sollte sich nicht abschotten.

Wie bei jeder guten Idee gibt es auch hier Schattenseiten. Wie die 20%-Zeit erlebt und genutzt wird, hängt offensichtlich auch von den Vorgesetzten und vom persönlichen Geschick ab. Hier einige Kommentare von (z.T. ehemaligen) Googlern:

• Es wird von einigen als “120% Time” bezeichnet, weil die zeitlichen Freiräume nicht wirklich zur Verfügung stehen. Immerhin kann man die Ressourcen von Google nutzen.
• Man brauche eigentlich 40%: 20% um das Projekt umzusetzen, und nochmal 20% um es zu kommunizieren (zu verkaufen)
• Man brauche viel politisches Geschick, um ein 20%-Projekt zum Erfolg zu führen. Nicht nur Unterstützung von KollegInnen, auch ein Sponsor “weit oben”, aber außerhalb der eigenen Abteilung wird empfohlen. Denen, die mit dem politischen Teil Schwierigkeiten hätten, würde die 20%-Regelung auch nicht helfen.
• In der regelmäßigen Mitarbeiter-Bewertung zur Beförderung spielen 20%-Projekte keine oder nur eine geringe Rolle. Es wird Produktivität gemessen, dabei schneiden automatisch “inoffizielle” Projekte schlecht ab. Die “guten” Projekte sind ja schon offiziell. Jemand der 100% seiner Zeit für seine “offiziellen” Projekte aufwendet, hat in der Regel mehr “Resultate” vorzuweisen, wenn es zur Evaluation kommt.

Ich denke, die Bestrebung, die 20%-Zeit in die Messung von “Performance” einzubeziehen, ist ein Irrweg und schuld an den Problemen, die in den enttäuschten Kommentaren oben zur Sprache kommen. Google hatte zwar den Projektfilter für die 20% Time ausgeschaltet, er wird aber über die Hintertür mit “Performance”-Bewertung und stack ranking wieder aktiviert.

Das ändert nichts daran, dass die Idee gut ist und sicher anderswo in abgewandelter Form weiter verfolgt wird.

Matthias Berth